Ostdeutschland steht auch mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung vor besonderen Herausforderungen. Während die Region wirtschaftlich und infrastrukturell aufholt, gibt es nach wie vor strukturelle Probleme und Vorbehalte, die den Fortschritt hemmen. Der Fachkräftemangel, gepaart mit einer zunehmenden Skepsis gegenüber Zuwanderung, stellt Unternehmen und Kommunen vor große Aufgaben.
Doch zugleich gibt es Beispiele für Erfolgsgeschichten, die zeigen, dass Veränderung möglich ist. Eine davon ist das Startup Staffbase. Die Kommunikationsplattform mit Sitz in Chemnitz ist das erste ostdeutsche Unicorn.
Im Gespräch mit Get Started gibt Martin Böhringer, Mitgründer von Staffbase, Einblicke, wie sich die digitale Landschaft in der Region verändert, welche Rolle Chemnitz für die Gründung seines Unternehmens spielte und wie die Integration internationaler Talente gelingt.
Martin Böhringer: Es ist ein gemischtes Bild. Trotz seiner vergleichsweise geringen Größe hat Sachsen überraschend viele positive Beispiele im Bereich Digitalisierung vorzuweisen. Von Online-Diensten wie dem Einwohnermeldeamt bis hin zu offenen Katasterdaten – alles ist digital verfügbar. In den größeren Städten ist Glasfaser selbstverständlich, moderne Infrastruktur ist hier vorhanden. Das ist beeindruckend. Dennoch gibt es immer wieder Bereiche, in denen noch erheblicher Nachholbedarf besteht.
Zum Beispiel mussten wir vor einiger Zeit mit der öffentlichen Verwaltung arbeiten, die entweder CDs oder Faxe verlangte. Beides haben wir in unserer Firma gar nicht mehr. Das war schon komisch. Und wenn du dich aus den großen Städten herausbewegst, dann brauchst du nicht mehr mit schnellem Internet zu rechnen.
Aber alles in allem fühlen uns hier wohl. Wir schätzen vor allem die kurzen Wege, unabhängig davon, ob sie digital oder face-to-face sind. Wir nehmen die Bürokratie als relativ gering wahr und schätzen die direkten Wege.
Bei einer Gründung geht es ja vor allem um Menschen. Du hast das Team um dich herum, mit dem du starten kannst, und kannst dann Schritt zwei und Schritt drei ebenfalls dort gehen, wo du bist. Das ist uns in Chemnitz gelungen. Der Nucleus von Staffbase entstand praktisch an der TU Chemnitz, wo wir uns kennengelernt haben. Später kam dann unser dritter Gründer, Frank Wolf, dazu, der bei der T-Systems in Dresden gearbeitet hatte.
Das heißt, Chemnitz und Dresden sind praktisch miteinander verbunden. Man kannte sich bereits im Ökosystem, und es hat einfach Sinn gemacht, dort zu bleiben, anstatt umzuziehen, nur um wieder zu dritt in einem Büro zu sitzen. Es war keine große Entscheidung, sondern einfach naheliegend. Wir waren vor Ort, hatten eine gemeinsame Vision und alle notwendigen Voraussetzungen, um loszulegen.
Die Herausforderungen bestehen darin, dass es noch nicht viele ähnliche Unternehmen gibt. Zwar gibt es viel Talent und Know-how, insbesondere bei Programmierern, aber spezialisierte Rollen wie Customer Success Manager sind selten, da solche Positionen oft in Software-as-a-Service-Unternehmen vorkommen, die in Deutschland kaum vertreten sind. Daher haben wir Schwierigkeiten, passende Kandidaten zu finden.
In Städten wie London oder New York gibt es ein starkes Netzwerk solcher Unternehmen, was die Suche nach geeigneten Personen erleichtert. Hier müssen wir oft die Anforderungen umformulieren, um lokale Talente zu finden, die nach einer kurzen Einarbeitung die gewünschten Rollen übernehmen können. Dies ist nicht nur ein Problem in Chemnitz oder Sachsen, sondern auch in großen Städten wie München oder Berlin, wo ähnliche Defizite bestehen.
Damals, als ich das erste Mal gegründet habe, bin ich überhaupt erst durch ein Netzwerktreffen in das ganze Thema Startup-Ökosystem hineingekommen. Meine erste Finanzierungsrunde habe ich auch bei einem Treffen in Berlin gelauncht - in Chemnitz hätte ich keinen Zugang zu Investoren-Netzwerken gehabt. Diese Treffen helfen auch, andere Gründer aus völlig unterschiedlichen Bereichen kennenzulernen. Das ist manchmal gut, weil man gemeinsam durch ähnliche Herausforderungen geht und daraus lernt. Man hat etwas zu erzählen, aber das würde ich nur in Maßen genießen, weil es auch ablenken kann. Zusammengefasst: Netzwerktreffen sind wichtig und wertvoll, aber sie sollten immer nur ein Mittel zum Zweck sein, nicht der Hauptzweck.
Für uns ist die Zusammenarbeit mit der Universität sehr wichtig. Wir haben ein strukturiertes Programm für Werkstudierende, in dem wir Talente frühzeitig aufnehmen und an uns binden, indem sie bei uns aktiv mitarbeiten. Unser Ziel ist es, unseren eigenen Nachwuchs zu fördern. Mittlerweile bilden wir sogar aus. Für ein Unternehmen mit 800 Mitarbeitenden mag das nichts Besonderes sein, aber als Software-as-a-Service-Unternehmen im schnell wachsenden Startup-Bereich ist es schon etwas Besonderes.
Der Satz, den ich zuvor erwähnt habe, trifft also nicht mehr ganz zu. Was für uns immer besser funktioniert, ist die Rückkehr von "Exillanten", also Fachkräften, die aus unserer Region stammen und zurückkehren. Das ist tatsächlich eine sehr große Zielgruppe. In den 90er- und 2000er-Jahren verlor die Stadt etwa 100.000 Einwohner, viele von ihnen haben Karriere in westdeutschen Städten gemacht. Jetzt beobachten wir eine starke Bereitschaft, zurückzukehren, oft wenn Familien gegründet werden. Die Nähe zu Großeltern, ein Haus mit Grundstück, gute Schulen und Kindergartenplätze sind wichtige Faktoren. Chemnitz bietet all dies in hoher Qualität. Die Immobilienpreise sind niedrig im Vergleich zu Städten wie München, und das Bildungsniveau ist hoch.
Die Stadt, die vor 15 Jahren wegen fehlender Jobperspektiven verlassen wurde, hat sich stark gewandelt. Heute bieten internationale Unternehmen spannende und gut bezahlte Jobs in Chemnitz.
Das ist eine komplexe Frage, die zwei Themen miteinander verknüpft. Die eine betrifft die allgemeine Skepsis gegenüber Migration, die oft mit illegaler Migration und Asyl verbunden ist und zu einer großen Polarisierung führt. Diese Bedenken stehen jedoch nicht unbedingt im Widerspruch zur Bereitschaft, qualifizierte Fachkräfte ins Land zu holen.
Ein Beispiel ist das Klinikum Chemnitz, eines der größten Krankenhäuser in Ostdeutschland, wo viele Ärzte einen Migrationshintergrund haben. In vielen Regionen, insbesondere im medizinischen Bereich, wäre der Betrieb ohne den Zuzug von Fachkräften kaum möglich. Dies wird auch von den meisten Menschen hier anerkannt, und es gibt wenig Widerstand dagegen. Das eigentliche Problem liegt darin, ein attraktives Umfeld für Fachkräfte zu schaffen.
Wir bemühen uns, ein positives Beispiel zu sein und zu zeigen, wie bereichernd und wichtig die Gewinnung von Fachkräften ist. In Chemnitz arbeiten Mitarbeiter aus rund 15 Nationen, weltweit sind es sogar 53. Wir sind ein international ausgerichtetes Unternehmen und betonen das immer wieder. Zusätzlich unterstützen wir lokale Sportevents, wie die Basketballmannschaft, die in der BBL spielt und den Europapokal gewonnen hat. Solche internationalen Ereignisse, die von über 10.000 Menschen gefeiert wurden, zeigen, dass Chemnitz offen für Internationalität ist und ein solches Image pflegt.
Historisch gesehen hat Chemnitz Internationalität in seiner DNA: Die Stadt wuchs durch Zuwanderung während der Industrialisierung. Diese positive Geschichte der Zuwanderung ist tief verwurzelt. Die Herausforderung besteht darin, die positiven Aspekte der Zuwanderung als selbstverständlich anzuerkennen und sie von der allgemeinen Unzufriedenheit mit der Migrations- und Asylpolitik zu trennen.
Wir liegen bei etwa 46% weiblichen Mitarbeitenden, was im Vergleich zu vielen Tech-Unternehmen bemerkenswert ist, besonders wenn man eine Gleichbeteiligung anstrebt. Unser Führungsteam besteht derzeit zu 39% aus Frauen, was ebenfalls über dem Industriestandard liegt. Unser Ziel bleibt jedoch, eine 50-50-Balance zu erreichen.
Dieses Ziel verfolgen wir nicht nur aus kosmetischen Gründen, sondern weil es für uns als Unternehmen wichtig ist. Unsere Zielgruppe ist divers, und wir möchten, dass sich diese Vielfalt auch in unserem Team widerspiegelt.
Um die 46% zu erreichen, haben wir gezielt auf Diversität gesetzt und Maßnahmen getroffen, um Frauen in allen Bereichen und auf allen Ebenen des Unternehmens zu fördern. Das umfasst gezielte Rekrutierung, faire Beförderungsverfahren und ein attraktives Arbeitsumfeld für alle.
Wir verfolgen dieselbe Strategie, die wir auch in Chemnitz anwenden, um Talente anzulocken. Dabei geht es darum, weniger auf Jobtitel zu achten. Denn wenn ich mir den Status Quo ansehe, gibt es oft eine Asymmetrie, und es sind weniger Frauen in der Tech-Branche in entsprechenden Positionen vertreten. Aber meiner Meinung nach gibt es viele talentierte Frauen, die genau die Fähigkeiten und das Potenzial mitbringen, das wir suchen, auch wenn sie vielleicht nicht den klassischen Jobtitel in ihrem Lebenslauf haben.
Wir meckern oft zu viel und erkennen nicht, was wir haben. Deutschland war für uns der ideale Markt zum Starten. Besonders im Bereich Mitarbeiterkommunikation und Kultur profitieren wir von der deutschen Haltung, die auf Ausgleich und Inklusion zwischen Management und Mitarbeitenden abzielt – etwas, das in vielen anderen Ländern fehlt.
In Deutschland gibt es einen starken Wunsch nach gemeinsamer Transformation und Fortschritt, oft getrieben von tiefen Überzeugungen. Im Gegensatz dazu sind internationale Märkte häufig auf Investment Cases und ROI fokussiert. Besonders bei mittelständischen, familiengeführten Unternehmen kommt dieser Wille von innen heraus.
Deutschland ist ein hervorragender Markt für B2B-Innovationen. Statt uns selbst zu kritisieren, sollten wir unsere Stärken und Vorteile anerkennen. Für uns ist es definitiv vorteilhaft, hier zu sein.